Autismus ist keine Krankheit, sondern eine Form neurobiologischer Vielfalt – ein anderer Weg, die Welt wahrzunehmen, zu denken, zu fühlen und zu kommunizieren. Im Sinne der Neurodiversität verstehen wir Autismus nicht als Defizit, sondern als eine von vielen möglichen Ausprägungen menschlichen Seins. Dennoch bringt eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) für viele Betroffene im Erwachsenenalter erhebliche Herausforderungen mit sich – insbesondere dann, wenn sie unerkannt bleibt oder nicht verstanden wird.
Autismus-Spektrum-Störungen umfassen eine Vielzahl individueller Merkmale, die sich in ihrer Ausprägung stark unterscheiden können. Zu den zentralen Kennzeichen gehören Besonderheiten in der sozialen Interaktion, Kommunikation, Reizverarbeitung sowie ausgeprägte Interessen und Routinen. Bei Erwachsenen zeigt sich dies häufig subtiler als im Kindesalter und wird daher oft übersehen oder falsch interpretiert.
Viele Betroffene haben gelernt, ihre Besonderheiten im Laufe des Lebens zu kompensieren – mit zum Teil erheblichem inneren Aufwand. Diese „Tarnung“ (oft als Masking bezeichnet) führt jedoch nicht selten zu Erschöpfung, Überforderung oder psychischen Begleitproblemen wie Angststörungen, Depressionen oder einem Gefühl von Entfremdung.
Autistische Erwachsene erleben ihre Umwelt oft intensiv, detailorientiert und logisch strukturiert. Zu den häufig genannten Eigenschaften zählen:
Reizempfindlichkeit: Geräusche, Licht, Gerüche oder soziale Reize können schnell überfordern.
Bedürfnis nach Klarheit: Soziale Situationen ohne eindeutige Regeln oder nonverbale Signale sind oft schwer einzuordnen.
Direkte Kommunikation: Ironie, Floskeln oder subtile Zwischentöne können verwirrend oder anstrengend sein.
Starkes Bedürfnis nach Routinen: Struktur schafft Sicherheit – unerwartete Veränderungen können Stress auslösen.
Spezialinteressen: Leidenschaftliche Beschäftigung mit bestimmten Themen kann zur Stärke und Expertise werden.
Soziale Erschöpfung: Soziale Kontakte werden mitunter als anstrengend erlebt, selbst bei gutem Einfühlungsvermögen.
Diese Merkmale sind nicht pathologisch – sie werden erst dann zum Problem, wenn Umweltanforderungen nicht zu den individuellen Bedürfnissen passen oder wenn das Umfeld zu wenig Verständnis aufbringt.
Viele autistische Erwachsene stoßen im sozialen und beruflichen Alltag auf unsichtbare Hürden:
Missverständnisse im Kontakt mit anderen
Überforderung in Großraumbüros oder bei ständiger Kommunikation
Schwierigkeiten im Bewerbungsgespräch, trotz hoher fachlicher Kompetenz
Innere Erschöpfung durch das ständige Anpassen an neurotypische Normen
Ohne passende Unterstützung oder Diagnostik kann dies zu einem langen Leidensweg führen. Viele Betroffene erhalten ihre Diagnose erst im Erwachsenenalter – oft im Zusammenhang mit psychischen Krisen, Burnout oder dem Gefühl, „anders“ zu sein, ohne zu wissen warum.
Der Begriff Neurodiversität betont, dass neurologische Unterschiede wie Autismus, ADHS oder Hochsensibilität Teil der natürlichen menschlichen Vielfalt sind. Statt „heilbar“ zu sein, verdienen diese Unterschiede Akzeptanz, Anpassung der Umwelt und individuelle Förderung.
Ein neurodiverser Blick auf Autismus bedeutet:
Wertschätzung statt Pathologisierung
Förderung von Stärken statt Fixierung auf Defizite
Anpassung der Umwelt statt Zwang zur Anpassung des Individuums
Autistische Menschen bringen häufig außergewöhnliche Fähigkeiten mit: hohe Präzision, analytisches Denken, kreative Lösungsansätze und Integrität. Wenn sie in einem passenden Umfeld arbeiten und leben können, entfalten sie ihr volles Potenzial – beruflich wie persönlich.
Für viele Erwachsene bedeutet eine ASS-Diagnose nicht Einschränkung, sondern Erleichterung: Endlich wird das eigene Erleben verständlich, frühere Schwierigkeiten lassen sich einordnen, und neue Wege der Selbstakzeptanz können sich öffnen. Auch das soziale Umfeld kann besser verstehen, was bislang oft als „seltsam“, „zu empfindlich“ oder „zu verkopft“ wahrgenommen wurde.
Eine differenzierte Diagnostik ist dabei entscheidend – nicht jede soziale Unsicherheit oder Sensibilität deutet auf Autismus hin. Umso wichtiger ist ein achtsamer und fundierter Blick, der Raum für Vielfalt lässt, aber auch konkrete Unterstützung bietet, wo sie gebraucht wird.
Die Praxis ist in der Zeit vom
25.08. – 12.09. 2025
wegen
Urlaubs
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